Zeitgenössische liebesgedichte dem klavier gewidmet
Doina Popescu
Eve Egoyan spielt die hier präsentierten Stücke für Solo-Klavier mit einer Intensität und Sensibilität, die einerseits von der Musik verlangt werden, andererseits besondere Merkmale dieser äußerst begabten Pianistin sind. Die Präzision und klare Überzeugungskraft der Spieltechnik wie auch der Interpretation sind nicht da, um an und für sich bewundert zu werden, sie dienen vielmehr ganz der Musik. Sie erwachsen aus der Verbundenheit zu der Musik, sie schöpfen aus der Musik, um ihr ein Vielfaches zurückzuschenken.
Durch ihr künstlerisches Feingefühl für die Verhältnisse zwischen der Musik, dem Instrument, der Interpretation, und der Ausführung gelingt dieser außergewöhnlichen Künstlerin die Verwirklichung eines reizvollen Gedanken von John Cage, der behauptet hat, daß der Höhpunkt des kreativen Prozesses während des Zuhörens stattfindet und nicht bereits während des Komponierens. Nur eine Interpretation von der Art wie sie uns hier geboten wird, ermöglicht ein so differenziertes Hörerlebnis.
Die Strauss Walzer von Michael Finnissy sind bestimmt von einer dem Komponisten eigenen modernen Syntax und bieten uns eine Rekontextualisierung einer bereits bekannten musikalischen Welt. Als Zuhörer werden wir eingeladen, die hellen, durchaus dunkel untermalten Farben und überwiegend leichten Strukturfragmente der Musik in ihrer ungebundenen, fast pointillistischen Abstraktion neu zu erkennen, neu zu erspüren. Weit über das strukturelle Experiment hinaus, fordert die Musik, von der Interpretin in ihrer tiefsten Essenz wiedergegeben, regelrecht zum seelischen Tanz auf.
Das Tagebuch für Klavier von Michael Longton ist ein längeres Stück mit einer übergreifenden Struktur, die die immer wiederholten Sequenzen in neue und komplexere Kontexte einbettet, sodaß sie eine progressive Verwandlung, ja gar Aufhebung erfahren. Dieses streng aufgebaute Werk gewinnt durch das expressive Spielen der Interpretin eine reichhaltige Textur und Materialität, die sich im Laufe des Stückes verdichtet.
Für Cornelius von Alvin Curran ist ein Werk in drei Sätzen, das uns eine durchaus faszinierende und vielseitige musikalische Neuentdeckung bietet. Das Stück führt den Zuhörer durch eine spannende und unerwartete Hörerfahrung, die drei Stadien durchwandelt – von dem einfachen, lyrischen Gedicht oder Lied, über die donnernden Modulationen innerhalb rhythmisch hypnotischer Wiederholungen, bis hin zu dem feierlichen, ruhigen Ausklingen des Stückes – eine ergreifend gespielte Homage an den verstorbenen Komponisten-Freund Cornelius Cardew.
Nocturn von Linda Smith setzt sich mit dem Thema der Vergänglichkeit der gehörten Musik auseinander. Das Verklingen eines jeden Lautes und die Pausen zwischen den Noten sind ebenso wichtig wie der Anschlag der Noten und die Notensequenzen selbst. In der Art und Weise wie Egoyan dieses äußerst fragile Stück wiedergibt, werden die Tragik der Vergänglichkeit wie auch die scheinbare Unmöglichkeit der Erinnerung erhalten.
Regenbogen-Tal von Stephen Parkinson ist das gewagteste, experimentellste und physischste Stück dieser Reihe. Die Pianistin wird bis zum Äußersten gefordert und setzt sich mit ihrem ganzen Körper ein. Sie spielt auf der Tastatur und greift in die Klavierseiten hinein. Sie bearbeitet die Seiten mit verschiedenen Instrumenten, um die harmonischen Sequenzen zu verändern und ihnen eine ganz neue Körperlichkeit zu verleihen. Die erzeugten Töne rufen Assoziationen und Gefühle hervor, die weit über das Musik-Technische hinausdeuten. Sie sind einerseits auf die kreative Freiheit der Komposition und andererseits auf die komplementäre Individualität der Interpretation zurückzuführen.
Was die Musik der fünf hier vorgestellten Werke verbindet, ist daß sie alle zeitgenössiche Liebesgedichte für das Klavier sind. Sie sind dem Instrument, auf dem sie gespielt werden, gewidmet. Jedes Werk untersucht in seiner eigenen Art die unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten dieses Instruments. Ob die Stücke, wie die ersten drei, streng durchkomponiert sind, oder wie die letzten zwei, der Pianistin viel Freiheit lassen, alle fünf verlassen sich letztendlich auf die Artikulationskunst der Interpretin.
Durch die virtuose Konzentration auf die Essenz eines jeden Stückes und die inspirierte Vermittlung des Wissens um das Einmalige des musikalischen Kunstwerks, bringt uns das Spielen von Eve Egoyan jede Note, jede Pause, jedes Stück in seiner Vollkommenheit so nahe, daß das Zuhören zu einer Reihe von unvergeßlich magischen Erlebnissen wird.